"Nichts wird erklärt, nichts wird bewiesen, alles sieht man."
(E. M. Cioran, "Gedankendämmerung")

"Jeder Morgen unterrichtet uns über Neuigkeiten des Erdkreises. Und doch sind wir an merkwürdigen Geschichten arm. Das kommt, weil uns keine Begebenheit mehr erreicht, die nicht mit Erklärungen schon durchsetzt wäre."
(Walter Benjamin, "Der Erzähler")

"Wir müssen Schluss machen mit dieser Idee, dass der Schriftsteller ein Fabrikant von Spektakeln ist, die einem Saal von Voyeuren auf dem Silbertablett der Bühne als ein fertiges, bewundernswürdiges Objekt zum Konsum vorgesetzt werden."
(Andrascz Jaromir Weigoni, Interview im Goon-Magazin)





Inhalt

Einleitung

Erster Teil - ÜBERDRUCK

Abschlussfahrt (März 2012)
Überdruck (April 2012)
Anmaßungen (Juni 2012)
Ich bin so stark so stark so stark aber (Juli 2012)
Lob der Schreibblockade (August 2012)
Generation Y (September 2012)
Euphorie macht alles platt (Oktober 2012)
Beton (November 2012)
Das Arbeitstier (November 2012)
Moral und Körper (Dezember 2012 /Januar 2013)
Leuchtendes Fleisch (Februar 2013)
Ich bin das Licht, ich esse meine Suppe nicht (Februar 2013)


Zweiter Teil - UNTER DEM JOCH DER FREIHEIT

Die letzte Gewissheit (April 2013)
Apokalyptische Besenkammer (Mai 2013)
Blasphemie in der Gartenlaube (Juni 2013)
Aufforderungen zum Sturz (Juni 2013)
Unter dem Joch der Freiheit (Juli 2013)
Niemand (März - August 2013)
Beunruhigende Hoffnungen (September 2013)
Melancholische Blutrünstigkeit (November 2013 -März 2014)
Bleich (Januar 2014)

Spotify-Playlist

Einleitung

Dieser Blog über die gefahr- und segenreiche Unfähigkeit, gut zu schlafen oder überhaupt zu schlafen, endet in dem Moment, als ich zum ersten Mal Cannabis probiere. Erfahrungen mit diesem Kraut als Antidepressivum und Dissoziativa (Mittel zur Auflösung des Selbst) beleuchte ich in Blumen & Löcher, während ich in Die fröhliche Abschaffung von Erfurt über politische Konsequenzen meiner Erfahrungen mit Schlaflosigkeit und Psychedelika nachdenke, um meiner Karriere als sozialistischer Politiker ein manisch-fragmentarisches Fundament zu setzen. Die Musik und die Songs, die während dieser mehr als 5 Jahre umfassenden Zeit entstanden sind, stelle ich auf holterpolter.blogspot.de vor.


1

Es war die Zeit einer gründlichen Enttäuschung, Verzweiflung mit und ohne Leidenschaft, es war die Zeit der Ernüchterung, des Auf-den-Boden-der-Tatsachen-Kommens. Irgendwann hat mich die Universität verlassen, weil ich eine Affaire mit einer Noise-Band nicht verheimlichen konnte; die Blessuren aus im Proberaum durchwachten Nächten konnten nicht mehr geleugnet werden; ich sollte eines Tages meinen Philosophie-Kommilitonen erklären, was denn Wahrheit für Nietzsche sei; die Nächte zuvor habe ich mich mit meinem geliebten Freund im Labor eingeschlossen, um uns in die Vorhölle elektrisch verzerrter Ambiente-Loops festzuklemmen und das Mögliche mit dem Unmöglichen zu verbinden; als dann der Morgen graute und wir erschöpft von Tätigkeitsfieber am Kern unserer biologischen Weisheit angekommen sind, schlug die Schlaflosigkeit eine Zäsur in unser Leben, eine Zäsur die von diesem Buch durchleuchtet und durchlöchert wird.
Überempfindlich, hyperaktiv streunerten wir durch die grau leuchtende Innenstadt und schlürften einen Kaffee nach dem nächsten und wurden immer weicher, transparenter, panischer, übertraten immer gröbere Fehler begehend die Grenzen unserer Sprache und der mit ihr verschweißten Persönlichkeit. Mir wurde klar, dass ich keine brauchbaren Eigenschaften in einer Band habe, und auch nicht als Student, auch nicht als Junge, auch nicht als Mitglied einer Zivilgesellschaft, und plötzlich stand ich vor dem Philosophie-Kurs, etwas zu Nietzsches Realitätsbegriff stotterte aus mir heraus - mein Selbstgefühl kleckerte in sich zusammen, ich knickte um und stehe seitdem nicht mehr grade; die Sozialgeldmaschine hat ihre Arme weit aufgemacht, mich lakonisch tröstend der Sinnlosigkeit und Leere preisgegeben; ungläubig ein paar Millimeter über dem Existenzminimum schwebend, wurde mir das ganze Ausmaß meiner Freiheit und Würde und Abartigkeit bewusst und die Zeit war erstmal vorbei, in der mich regelmäßige, erholsame Stunden Schlaf polstern gegen die Trübnisse und Qualen, die ein waches, aufmerksames, rationales, bürgerliches Leben mit sich bringen; die Abgründe, die länger andauernde Schlaflosigkeit offenbart, haben meinen Charakter verdüstert, meine Sitten verlottert, meinen Glauben (an die Menschen, an das Gute, an die Kunst) untergraben; alles Selbstverständliche wurde mir absurd und alle Hoffnung dumm; tragischerweise kann man diesem schlafgestörten Zustand auch eine dunkle Lust abgewinnen, nach der man süchtig werden kann: es ist die lustvolle Tragödie des aus den Schranken der Individualität herausgerissenen Geistes, der in völliger Verwirrung und Unsicherheit so hell und krank leuchten kann, wie es nur Heilige und Tyrannen können.

2

Die Weigerung zu schlafen kann schließlich so weit getrieben werden, dass man sich und den Anderen abhanden kommt, "auf die schiefe Bahn" gelangt, vor der meine Mutter mich immer gewarnt hat mit kaltem Gesicht; als ich noch jünger war, musste ich zu einer bestimmten Zeit ins Bett gehen; selbst mit sechszehn Jahren durfte ich nicht die Nacht durchmachen; Schlaf war etwas, wozu ich von früh an verpflichtet wurde; "Wir meinen es doch nur gut!", jammerte sie mir die Ohren voll, als ihr depressiver Mann mir eine Ohrfeige gab, weil ich nachts fernsehschaute. Irgendwann habe ich jedenfalls begriffen, dass meine Eltern mich nicht lieben konnten, und ich sie auch nicht. Meine Bücher und Lieder sind auf jeden Fall Manifeste meiner Emanzipation von meinen Wurzeln. Die Angst vor der schiefen Bahn, die mich meine ganze Pubertät über und noch weit darüber hinaus vom Wesentlichen abgehalten hat, wurde immer kleiner, je größer der Abstand zum Erzgebirge wurde, jener unheilvollen Ödnis, aus deren Schoß ich kriechen musste.
Die Schlaflosigkeit war die erste, bedeutende Droge, unter deren Einfluss feste, notwendige Gewissheiten sich auflösten, ich mich nur noch mit den Banalitäten meiner Körperlichkeit identifizieren konnte, dort wo es unmöglich ist, objektiv oder subjektiv zu sein, dort wo man nichts wissen und sich nichts mehr vormachen kann. Die Ärzte verschrieben mir eine Depression, weil ich mir nicht einzureden konnte, dass es sich lohnt, einer Erwerbsarbeit nachzugehen. Die Rente, die ich seit dem beziehe, ermöglicht es mir, meine Nichtzugehörigkeit mit Worten und Klängen zu stabilisieren und zu verherrlichen. Ich kann mir kein besseres Leben inmitten des falschen vorstellen.
Meine künstlerische Arbeit ist das Einzige, was ich habe, um mich meiner Selbst zu vergewissern. Hier bin ich also, zitternd, schwitzend, selbstlos bis zur Borniertheit. In welchem Hinterland, auf welchem Schrottplatz, in welchem Sumpfgebiet bin ich gelandet? Warum ist Erfurt so hässlich? Wie gut schlafen meine Mitbewohner? Nimmt die Frau im Arbeitsamt Aufputschmittel? Woran kann ich mich festhalten? Hab ich das Ich in der Hand, das sich irgendworan festhalten will?

3

Ein Blick voraus: Europa ist eine undurchschaubare Maschine, die sich nicht selbst kontrollieren kann, weil sie kein Zentrum, keinen Kern, kein Herz hat; der Sozialstaat ist ein ungemütliches Kissen, auf dem "Würde" steht; mein Ich ist ein Flickenteppich, für den niemand verantwortlich ist, meine Sprache ein Flickenteppich, mein Bewusstsein auch, mein Freundeskreis und meine Karriere und meine Liebe und meine Werte ebenso. Alles befindet sich in der Schwebe, kein Wort und keine Geste ist unmissverständlich, kein Beruf unbedenklich, kein Vorhaben klar, keine Erkenntnis eindeutig und keine Liebe ungefährlich. Wann werde ich wieder schlafen können?
Die Tage verlieren endlich ihre Substanz, ihre Struktur, ihren engen Sinn, wenn man kein Auge mehr zubekommt; und verloren die Fähigkeit, nein den Wahn, sich als feste Person anzuerkennen. Je länger man wach bleibt, desto quälender gängelt die Frage, was es bedeutet, authentisch zu sein, desto höhnischer grinst die Ungewissheit, wer in einem an die Möglichkeit authentischen Verhaltens glaubt, wer in einem sich diese Frage stellt und wer sie beantwortet und warum.
Ich habe Anspruch auf den Kopf, in dem diese Gedanken aufleuchten und wahrgenommen werden, aber von wem werden sie wahrgenommen? Wer in mir entscheidet, welche Gedanken meine sind? Das Ich ist selbst nur ein Gedanke - wie kann der Gedanke, ein Ich zu haben, etwas entscheiden? Es gibt nur Wahrnehmung, das wollende Ich ist ein Gedankenkonstrukt. Ich behaupte der Besitzer meines Kopfes zu sein, ich muss Verantwortung für meinen Kopf übernehmen, ich muss mich mit ihm identifizieren, mit allem was in ihm vorgeht, mit allem aus ihm herauskommt, aber wer bin ich? Ich schau mich um und finde nichts, ich stell mir vor, was hätte werden können und finde nichts. Die Schlaflosigkeit hat die Stricke reißen lassen, die mich mit meiner Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft verbunden haben; sie hat mich zu einem Gespenst gemacht und als Gespenst ist es unmöglich, Authentizität zu behaupten. Schlaflosigkeit lässt die personale Identität als eine Neurose, eine Falle, eine Lüge erscheinen, die drückt, die schikaniert, die borniert: wie sollte man jetzt eine Rolle spielen können, da es keinen festen Bühnenboden mehr gibt und man zwischen allen Verhältnissen und Begriffen schwebt?
Seit vielen Monaten ruhe ich mich aus auf meiner Untauglichkeit für jene Bühne, die alles Weltgeschehen ist und hisse in meinem Bett eine transparente Flagge, die behauptet, dass man authentisch nur sein kann, wenn man sich losgeworden ist.

4

Nur die Gesamtheit all meiner Handlungen und Gedanken und noch all meiner Gefühle und Träume, die Gesamtheit all meiner Gesichtsausdrücke, all meiner Haltungen, all meiner Pläne und Erfolge und Pleiten, und noch meine Wahrnehmung und Bewertung all dessen, all das zusammen bin ich. Ich bin über die ganze Zeitspanne meines Lebens ausgebreitet. Das Ich ist nichts Gegenwärtiges. Niemand kann exakt wissen, wer er ist. Andere wissen Dinge über mich, die ich nicht weiß, jeder sieht mich auf seine eigene Weise und jeder hat Recht. Um mich wirklich zu erkennen, müsste ich wissen, wie alle Menschen mich definieren, wenn sie mich permanent beobachten und analysieren und bewerten würden, sie müssten von meiner Geburt an dabei sein und dürften ihr Urteil über mich erst abgeben, wenn sie mich ohne Unterbrechung bis zu meinem letzten Atemzug genau beobachtet haben und sie müssen in ihre Überlegungen alle Folgen meiner Handlungen einfließen lassen und noch alle Träume die ich träumte. "Ich will" zu sagen machte nur Sinn, wenn man einen Kern hätte, der etwas wollen kann, aber der Kern ist nur ein Wort und Worte sind kein Subjekt. Unser Ichbewusstsein ist eine grammatikalische Parallelwelt.
Die ganze Welt ist ein verworrenes Bühnenstück, dem sich keiner entziehen kann. Alle spielen mit, alle sitzen im transparenten Sattel ihres Selbstmodells, so als wären alle organischen Funktionen auf ein solches Modell angewiesen. Die Welt ist eine Große Maschine, alle Menschen sind Sklaven der Großen Maschine, das Ich ist das Betriebssystem, das die Maschine seinen Sklaven eingebaut hat. Indem ich am Ideal eines festen Ichs rüttel, rüttel ich an der ganzen Welt.

5

Schlaflosigkeit ist ein Revolver. - Identität ist eine Falle. Kommt Euch abhanden! Die Kältesten, Zerzweifelsten, die Hässlichsten, Bösesten haben es am nötigsten. Kann ich sie erreichen? Ich trinke einen starken Espresso. Ich kann nicht mehr als eine detaillierte Kapitulationserklärung verfassen.
Ich bin frei, weil ich mir nicht vorstelle, wer dieses Buch lesen wird: jede Ahnung würde mich in eine Rolle zwingen. Ich bin frei, weil es nicht auf mich ankommt. Ich bin ein Gespenst und klimpere mit meiner Aluminiumkette an Häuserfassaden und Gartenzäunen und Müllkontainern entlang, ich liebe es, wenn sich Leute wegen mir aufregen. Ich bewirke gern irgendwas. Meine Bescheidenheit dabei ist meine größte Stärke und meine größte Gefahr. Manchmal, wenn ich besonders lang nicht geschlafen habe, überkommt mich die Lust, ein Haus anzuzünden, mir an der Supermarktkasse in die Hosen zu kacken oder wilde Hunde in der Straßenbahn loszulassen. Ich bin ganz sicher, dass sich meine Wurzeln tief in den Boden dieser Stadt gegraben haben. Indem ich hier nichts tue und jeden Tag ohne Ziel durch die Straßen ziehe, entkoppel ich mich aus den Kreisläufen der Stadt und komme am Grund meiner Freiheit ein: der Freiheit von Sinn und Struktur und Zukunft.


November 2017

Demien Bartók




Musikbeilage.

Neben meinen Songs, die ich unter meinem Namen seit 2011
auf Bandcamp (siehe hier: https://demienbartok.bandcamp.com)
und Soundcloud (siehe hier: soundcloud.com/gemuesejazz
hochlade,
habe ich eine zweite Musiker-Existenz als Elian Meußß,
noch kälter, lärmender, asozialer als die Demien-Bartók-Songs;
damals, als mir die Schlaflosigkeit alles genommen hat,
konnte ich mich mit meinem Keyboard extrem frei bewegen,
verschwand ich monatelang in Ambiente-Schleifen,
zerstörte ich letztlich jedes ästhetische Gewissen,
um die Welt, aus der ich kam, zu verneinen,
um den Weg frei zu machen für die Phantasie über eine neue Zukunft.

Alles ist ein Remix.
Zerstöre die Sprache der Macht.
Was du mit Musik machen kannst,
kannst du mit Worten tun,
kannst du mit Farben tun,
kannst du mit deinen Haaren tun,
kannst du mit deiner Haut tun,
kannst du mit der Kaufhausmusik tun,
kannst du mit deinem Geschmack tun,
kannst du mit deiner Persönlichkeit tun.
Zerstöre die Sprache des Systems.
Komm vom rechten Weg ab.
Verliere den Boden unter den Füßen.
Sei unerreichbar. / Du musst sie alle loswerden!