Moral und Körper

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Die Lust ist das Zentrum, um das meine Werte kreisen. Meine Ästhetik ist das Fundament meiner Moral. Mein Geschmack hat mein Weltbild im Griff.
Ich wünschte, die Menschen würden weniger Angst vor ihrer Lust haben, den Anblick von unzufriedenen Leuten kann ich nicht ertragen, ohne abzustumpfen, und so geht es allen Leuten, besonders wenn sie es nicht wissen.

Kennt ihr Leute, die sich wegen dem, was ihnen lieb ist, als etwas Besonderes oder vielleicht sogar als etwas Relevanteres vorkommen? Solche Leute haben ein großes Herz und einen klaren Weg vor sich: der Weg in die Sackgasse ihrer Identität.

Ein Regelwerk, an das sich alle halten sollen, ist genau so eine schlimme Idee wie Musik, die alle hören sollen, wie Essen, das alle essen sollen. Jeder hat etwas Anderes nötig, jeder ist zu etwas Anderem befähigt, weil jeder einen anderen Körper hat, der ganz eigene Bedingungen und Bedürfnisse hat. Mit allem was ich schreibe, versuche ich mich gegen eine Vereinheitlichung des Menschen zu wenden und den Gedanken an eine wirkliche Vielfalt, eine für die herrschenden Verhältnisse vielleicht gefährliche Vielfalt frisch zu halten.

Moral ist die Wärmeflasche für den unterkühlten und der Eisbeutel für den überhitzten Lieblosen.

Der tragische Konflikt zwischen Triebe und Moral wird am deutlichsten ersichtlich, wenn man die Schönheit der Musik und die Notwendigkeit von Politik gegenüberstellt.

Ein Kind, das zum ersten Mal weint, weil die Eltern es für eine Handlung bestrafen: es weint, weil es spürt, dass es nicht verantwortlich für sich ist, es weiß, dass es sich kein Ich ausgesucht hat, dass es nichtmal eine feste Ich-Substanz (die Ursache von Handlungen wäre) gibt und es nur ein Spielball der inneren und äußeren Kräfte ist und deswegen ständig in Interessenkonflikte gerät. - Die Eltern werten dem Kind dieses schauerliche Erlebnis als eine notwendige Empfindung um, die man bekommt, wenn man etwas an sich Böses tut und verderben das Kind mit der Lüge, es wäre allererste Ursache einer absolut falschen, kranken, strafbaren Handlungen. - Das Kind weint, weil es sich im Moment der Strafe absolut nicht geliebt weiß: seine Eltern haben es so wie es war in die Welt gesetzt, nach ihren persönlichen Wünschen und Fähigkeiten erzogen, das Gefühl von Liebe und Geborgenheit geschenkt, und plötzlich wenden sie sich gegen ihre eigene Zeugung, gegen ihr eigenes Werk. Die ehemals als bedingungslos empfundene Liebe wandelt sich in eine an moralische Prinzipien gebundene Liebe.

Strafen dienen dazu, gewisse Handlungen zu verdrängen und andere zum Vorschein zu bringen. - Das Gewissen ernährt sich von dem Gefühl der Schwäche, das einen belastet, wenn man gewisse Dinge nicht tun kann, ohne bei anderen Leuten Ärger, Stress, Zorn zu erzeugen. Es ist keine moralische Empfindung, die ein Kind davon abhält, im Supermarkt etwas zu stehlen, sondern der Ärger über die Unfähigkeit unbemerkt etwas zu stehlen und die Angst vor den Konsequenzen des Erwischtwerdens. Diesem Ärger und dieser Angst verleiht die Idee des "guten Gewissens" einen edlen Anstrich, er sorgt dafür, dass man sich nicht erniedrigt fühlt. Einen Schritt weiter in der intellektuellen Entwicklung und das Gewissen selbst wird endlich als erniedrigend empfunden und als ein wesentlicher Grund für die eigenen Minderwertigkeitsgefühle und Depressionen erkannt und Schritt für Schritt gegen eine stärkere, schönere Idee eingetauscht.

Was für ein erbärmlicher Selbstbetrug: sie läuft nachts die düstre Allee entlang, ist froh, dass vor ihr ein Typ geht, hofft, dass er die Schnecken am Wegrand zertritt, damit sie sie nicht ausversehen zertritt. Sie hat ein sehr billiges Gewissen - das Böse ist niemals so billig.

Es ist ja bekannt, dass Polizisten so ein großes Problem mit dem Sichten von Kinderporno-Material haben, weil sie nicht wissen, wie sie die Erektion bewerten sollen, die sie bekommen und die sich nicht schlechter anfühlt als die anderen Erektionen.

Strafen können nicht verbessern, sie unterdrücken nur. Es muss ein gutes Zeichen sein, wenn eine erduldete Strafe das Böse erst richtig entfacht. Von jeher habe ich Sympathien für ehemalige Häftlinge gehabt, die sich am Justizsystem rächen wollten. Der Staat hat sie erniedrigt: um nicht depressiv zu werden, müssen sie sich rächen, um ihre Ehre wiederherzustellen, die genau jene Würde ist, die im Grundgesetz wie eine Flagge hochgehalten wird. Am Umgang mit gewalttätigen, bösartigen oder kranken Menschen verrät der Staat seine Seele.

Für den pragmatischen Erfolg eines Unangepassten ist es am Ende vielleicht doch entscheidend, ob sein Nicht-Reinpassen in jene Welt reinpasst, gegen die er sich auflehnt. Doch vielleicht darf er selbst darauf keine Rücksicht nehmen.

Der Staat unterdrückt das kranke, verzweifelte, sich-selbst-peinliche Verbrechen ebenso wie das schöne, vitale, schamlose Verbrechen. Die einen sind die letzten, heimlichen Schreie einer degenerierenden Menschheit, die anderen sind das immer wiederkehrende Seufzen einer übermutigen, neuen Menschheit - die einen schauen bitter nach innen und ziehen die letzten Konsequenzen, die anderen schauen nach drüben und kennen ihre Jas und Neins, aus denen ein Weg, ein Ziel erwachsen wird. Der Staat missversteht die Verbrecher als Ausschussmenschen, er ist unfähig, ihre Notwendigkeit zu erkennen und ihre Not mit Blumen zu schmücken. Die einen Verbrecher werden immer hässlicher und kranker, die anderen immer schöner und gesünder und selbstbewusster.

Die Reaktion seines Herzens, die der moralisch Handelnde von seinem Tun erwartet, ist die einzige Motivation seiner Handlung - und nicht nur die des moralisch Handelnden.

Das Gute und das Böse müssen sich bekämpfen, um stolz auf sich zu sein - und brauchen den Stolz, um ihre Wahrheiten nicht zu verwechseln mit den Wahrheiten der Gegenseite.

Der Wille zum Guten macht das Herz weich, damit das Gehirn hart werden kann.

Moralische Gefühle? Nichts weiter als Sympathien für Fernsehhelden.

In erster Linie tadelt man jemanden nicht um ihn zu verbessern, sondern um sich selbst zu demonstrieren, dass man Macht über jemanden hat. Niemand will eine Welt, in der er keine Macht über Andere hat.

Dir gehört nur das, was du geschenkt bekommen oder gestohlen hast. Deine Kassenzettel und Quittungen sagen dir niemals, was dir gehört. Man kann nur das richtig besitzen, was man nicht gekauft hat. Alles, was wir gekauft haben, klebt und stinkt, vergiftet die Lebenslust und erniedrigt den Geist. - Wir müssen immerzu stehlen, weil wir unbedrückt leben und besitzen wollen - so wollen wir uns definieren. - Wir wollen uns alles einverleiben, was wir nötig haben - und auch mit Dingen, für die wir - nach Meinung derer, die uns nicht kennen - keine Verwendung haben, wollen wir experimentieren.

Jedes Verbot ist nicht mehr als ein Ball, den man dir zum Spielen zuwirft. So wie der Ball es dem Kind nicht übel nimmt, wenn er im Spiel kaputt geht, so angemessen ist es, wenn du ein Verbot übertrittst, ganz gleich welches es auch sein möge. Es ist Ausdruck echter, wehrhafter Lebensfreude, wenn du keine Ehrfurcht vor den Regeln im Menschenpark hast und so ernst und stolz und entrückt deinen Weg behauptest wie ein Kind im Sandkasten sein Spiel behauptet.

Am häufigsten empört sich der Mensch, wenn Dinge getan werden, die „an sich“ unmoralisch sind, ohne dass er irgendwie negativ von den Handlungen betroffen ist. Er ist eigentlich allein von dem unangenehmen, ihn herabsetzenden Gefühl gestört, das sich einstellt, weil eine „an sich schlechte Handlung“ in seiner Gegenwart begangen wird - und seine moralische Empörung soll ihm dieses Gefühl erträglich machen oder vom Hals schaffen. Sein Mittel: das Ideal einer Handlung „an sich“, welches ihm das Recht gibt, jedes menschliche Tun eindeutig zu kategorisieren. Doch es gibt keine „Handlung an sich“, jede Handlung ist ein Unikat, jede Handlung hat eine andere Geschichte, hat andere Motive, andere emotionale Begleitzustände, Bewusstheitsgrade überhaupt: dies aber gründlich zu verneinen oder wenigstens zu übersehen ist Grundbedingung jeder Moralpredigt. Die Empörung, die schnelle, unbedingte Erlösung sucht, bedient sich schlechter Augen und grober Ideale, um die Handlung aburteilen zu können - versiegelt mit religiösem Pathos - und so lügt der Fürsprecher einer allgemeinen Moral gleich allen Fürsprechern. - Wären die Pforten unserer Wahrnehmung frei von Moral, erschiene uns der Mensch, wie er ist.

2

Die meisten Mörder haben eine gesunde Selbstachtung, weil sie ein Ohr für starke Musik haben. Nur wer für Musik nicht empfänglich ist, wer sich von Musik nicht verzaubern, mitreißen lassen kann, nur wem Musik keine Würde geben kann, wird keinen leichtherzigen, selbstbewussten Mord begehen können. Ein Richter, der Motive bewerten muss, darf nichts wissen von der mächtigen Lust und Unlust, mit der man dem Notwendigen gegenübersteht.

„Nicht der Mord ist illegal, sondern dabei erwischt zu werden.“ Das ist die richtige Empfindung.

Wir müssen uns schützen vor der ansteckenden Wirkung eines Gesichts, das uns den Glauben an die Menschheit erhalten will: denn wohin sollte uns dieser Glaube führen, wenn nicht in die totale Selbstaufgabe, die absolute Verneinung unserer Lust und Widerstandsfähigkeit, die Dementierung unseres Musikgeschmacks und unserer Selbstgespräche.

Da man die Dinge nie so kompliziert wahrnehmen und beschreiben kann, wie sie tatsächlich sind, muss man sie einfacher wahrnehmen und einfacher beschreiben lernen als sie sind: man muss lügen, um nicht den Überblick zu verlieren, man muss lügen, um Haltung zu wahren.

Lenke dein Interesse nicht auf das, was Leute sagen, sondern auf das, was sie mit dem Gesagten verbergen wollen. Lenke dein Interesse nicht auf das, was du denkst, sondern auf das, was dein Denken verbergen soll. Niemand soll leichtfertig denken, dass er genau weiß, was er denkt und fühlt, was er nicht denkt und nicht fühlt, dass es überhaupt einen Unterschied zwischen Denken und Fühlen gibt. Niemand soll leichtfertig glauben, dass Gedanken einen freien Willen haben, dass Gefühle wissen, was sie anrichten, dass der Autor dieser Zeilen seine Absicht verfehlen wird.

Ich kann mir nicht erklären, warum es mich sexuell erregt, wenn ich Videos sehe, in dem Tiere gequält oder ermordet werden. Sie tun mir wirklich leid und ich würde nur zu gern die Menschen abschlachten, die Tiere in enge, geflieste, dreckige Räume einpferchen und ihnen nacheinander die Kehle durchschneiden. Die Massentierhaltung ist pervers und jeder der sie akzeptiert als notwendiges Übel ist pervers - aber die Perversion ist faszinierend, die Faszination ist erregend, genau wie Dokumentationen über Auschwitz einen wohligen Schauer auslösen, der mich von allem abtrennt, was ich am Gymnasium zu empfinden gelernt habe. Ich sehe die stumpfsinnigen Schlachter, die ihren Job tun, ich sehe sie routiniert die Tiere in Massen töten, Tiere mit putzigen Schlappöhrchen und süßen Näschen, ich sehe, wie sie sich wehren, ich sehe wie sie hilflos um ihr Leben zappeln, ich höre sie fürchterlich schreien, ich sehe Blutfontänen spritzen, ich bin angewidert von der Menschheit und geil in einem Moment, mein Schwanz ist total steif, ich will ihn irgendwo reinstecken, ich hüpfe nervös hin und her und mein Herz brüllt wie ein hysterischer Affe das ganze Haus zusammen, ich spüre, dass ich irgendwo ganz unten angekommen bin. Ich bin viel zu gleichgültig, um mich zu schämen, wissend, wie hässlich mein Gesicht aussieht, wenn ich gleichgültig bin, wie dumm, wie krank, wie abartig ich aussehe. Irgendwann werde ich einen Weg finden, meine Perversionen auszuleben, irgendwann, wenn meine Geilheit meinen Ekel übertrumpft hat. - Es ist mir jedenfalls unmöglich zu begreifen, wie man so gleichgültig Tiere töten kann, ohne sich in der Lage zu fühlen, ebenso gleichgültig Menschen zu töten.

Du sehnst dich nach dem wunderbaren Gefühl der Liebe, du willst, dass man es dir liefert - so wie der Bäcker dir Brötchen liefert, damit du sie essen und überall damit prahlen kannst: „Seht nur, was mir der Bäcker gebacken hat!“ und du bezahlst nur mit einem Lächeln und das alles macht dich glücklich und alle sollen denken „Wie könnte man so einem Lächeln auch widerstehen?!“

Jedes Gefühl ist arrogant gegenüber anderen Gefühlen und will nicht „begründet“ werden. Die Tatsache seiner Existenz ist Rechtfertigung genug. Es ist da, also ist es real, also ist es wahr, also bringt es sich ein ins Große und Ganze. Niemals kann man den Brunnen ausschöpfen, aus dem ein Gefühl gesprungen kommt - lieber soll man sich über den goldenen Ball freuen, den es mitgebracht hat..

3

Wer bist du?
Ein Körper der herausfindet,
ob er seine Bedingungen durchsetzen kann
oder nicht.

Keinen sahst du bisher, der die richtigen Konsequenzen aus dem zog, was du erlebt hast.

Weichgeklopft von der Spaßgesellschaft brauchen viele Menschen einen dicken Panzer an Oberflächlichkeit, um sich im Inneren, ganz unbemerkt, noch beisammenhalten zu können. Viele haben sich in sich isoliert und bekommen bewusst nur noch recht wenig von sich mit.

Es passiert jeden Tag tausendfach, dass die tiefe, ehrliche, gegenseitige Liebe zwischen zwei Menschen ganz unerwartet, von einer Sekunde auf die andere abreißt und man eine ungeheure Leere zwischen sich und dem Anderen empfindet. Leider hat man dann meist nicht den Anstand, sich zu entschuldigen und sich wieder zu trennen, so als wäre nichts gewesen; nein - man versteckt sich hinter Ritualen, Komplimenten, Geschenken, Perversitäten.

An einem Mann liebt man immer den Jungen in ihm, an einer Frau immer die Männlichkeit in sich selbst. (An einem Mädchen liebt man immer den Jungen in sich selbst. An einem Jungen liebt man den Jungen selbst und nichts als den Jungen.)

Die schönste Liebe und die grässlichste Mordlust sind zwei Gesichter einer menschlichen Eigenschaft; man verurteilt einen Mörder für die selben großen, schönen Gefühle, die auch ein Liebender hat; der Mörder wird von seinen Gefühlen in eine andere Richtung getrieben als der Liebende, aber fühlt sich eigentlich nicht schlechter und dreckiger als der Liebende. Gefühle von unten sind immer mächtiger als moralische Vorurteile (Worte, die den Menschen schlecht und klein machen) von oben. Gegenbeispiele liefern nur Menschen mit geistigen (religiösen, sozialen, neurologischen) Krankheiten.

Eine alte Frage ist mit einer neuen Stimme auch neu gestellt.

Ein Mittel gegen Resignation: der Gedanke an extreme, unentrinnbare, ungewiss lang andauernde Schmerzen. - So müde deine Glieder, dein Geist, dein Gewissen, dein Geschmack, deine Lust auch sind: Schmerzen wecken die tiefsten, stärksten Triebe zum Leben. Oft erkennt man erst unter den größten, körperlichen Qualen, dass man nicht sterben will. Der sich peinvoll krümmende, hilflose, fanatische Leib ist die erste Ursache eines grundlegenden Bewegung gegen Verfall und Todessucht.

Die Herrscherin über all deine verschiedenen Unglückszustände ist die Unaussprechlichkeit. Wie streng sie ihr Regiment führt, so abhängig ist sie von dem, was sie regiert und drückt. Sie wird niemals sich entthronen lassen.

Die unrealistischste, übertriebenste Phantasie, die dein Gehirn dir bisher in dein Bewusstsein gegeben hat, verhält sich zu dem, was es eigentlich weiß, wie ein Mohnkuchen-Krümel zu einem halben Kilo Heroin.

Der Dumme hat mindestens vor seinen Ungewissheiten Angst, der Erhabene maximal vor seinen Gewissheiten.

Ein enges Weltbild engt die Gefühle und die Sprache ein und letztendlich die Ansprüche ans eigene Leben.

Wir gefährlich! Er schätzt sich im Glück. Vielleicht gehört es zu seinem Pech, sich glücklich zu fühlen, obwohl er unglücklich ist. Und der da drüben? Er verteufelt sein Unglück, aber nachher könnte dieses Unglück sich als Glücksfall herausstellen. - Wir urteilen allzu oft allzu schnell über Glück und Unglück. Vielleicht sind viele kleine Glücksmomente Bedingungen eines großen Unglücks, und vielleicht sind die vielen kleinen und großen Unglücke Voraussetzungen für ein großes, namenloses, dauerhaftes Glück. - Wir müssen uns über unsere voreiligen Wertschätzungen erheben, uns distanzieren von den alltäglichen Affekten, um die Proportionen unserer Innenwelt besser einschätzen zu können.

Der Wille zur Toleranz entsteht in dir, wenn dein Unvermögen auf Gleichgültigkeit stößt.

Man kommt nie nah genug an das Wesentliche heran. Die Gefühle, die ein Satz erzeugt, rechtfertigen den Satz. Dieser Satz erzeugt im Hintergrund die eigentlichen Gedanken und Gefühle. Kein Gedanke in diesem Buch hat es auf Wahrheit abgesehen - hier geht es nur um einen Taumel, der dir eigene Gedanken und Gefühle erzeugen soll. Hier wird nichts geliefert, nur ausgelöst.

Es ist eine Lust, Dinge die einem etwas bedeuten kaputt zu machen, es ist eine Lust, sich hässlich zu fühlen.

Deine Lust auf ein bescheidenes, harmloses, demütiges Leben ist eigentlich ein Loch, das eine himmlische Lebensmüdigkeit in deine Substanz gebohrt hat, das sich sehnt, gestopft zu werden mit Irrsinn. - Es sind nicht Gedanken, die uns am Leben halten, sondern bestimmte Lüste. Wehe, du lässt dich nicht vertrösten! Wehe, man hat dich nicht genügend erniedrigt! Wehe, du kannst dich nicht zurückhalten! Wehe, deine Geilheit ist größer als deine soziale Vernunft! Wehe, du bist unzufrieden mit dem, was die Unterdrückung deiner Geilheit erzeugt! Wehe, der Druck deiner Moral kommt nicht gegen den Größenwahnsinn deines Körpers an! Wehe, deine Organe funktionieren noch einwandfrei! Wehe, du willst glücklicher und widerstandsfähiger sein als deine Freunde! Wehe, du kannst dich mit deiner Ungerechtigkeit, deinem Bösen, deiner Sterblichkeit abfinden! Wehe, du kannst noch herzlich lachen und weinen!

Keiner von euch Menschen lässt all seine Gedanken zu. Ihr glaubt, das denken zu können, was ihr wollt, ihr glaubt, dass eure bewussten Gedanken die einzig relevante Wirklichkeit eures Geistes ist und dass diese Wirklichkeit euer Selbst ist. Ihr glaubt, dass Gedanken, die ihr nicht wollt, keine richtigen Gedanken sind.

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Das Ich ist nur ein Pappkamerad, ein Sündenbock; das Schattenkabinett der Triebe hat das Ich als Alibi aufgestellt. Man kann es nicht in ein grelles Licht ziehen und beschreiben und berechnen. Die Leute haben es nötig, dich zu beschreiben, zu typisieren - das heißt: bestimmte Eigenschaften hervorzuheben und andere (nicht erkennbare oder als irrelevant abgestempelte) zu vernachlässigen. Jede Beschreibung, jedes Urteil ist deshalb eine Vergröberung - aber man muss dieser Beschreibung und Beurteilung vertrauen, da man sonst nichts hat, dem man vertrauen könnte. Doch gerade das Unbeschriebene, das Verborgene an einer Person, das Kleine, Unscheinbare kann das Entscheidendste sein. Dies einzusehen schützt vor Idealismus und Enttäuschung und ist nicht nur für unsere Mitmenschen, sondern auch und zu allererst für uns selbst von außerordentlicher Bedeutung. Man nimmt schließlich nur jene Gedanken als die eigenen (und gewollten) wahr, die dem gewohnten Charakter entsprechen. Allein die Gewöhnung an die eigenen Gedanken und natürlich die Angst, sich zu „verlieren“, machen es anderen, „neuen“ (es sind eigentlich nur die zur Zeit schwächeren) Gedanken schwer, sich durchzusetzen (- was aber überhaupt nichts über ihre eigentliche Kraft und ihren Wert aussagt).

Depersonalisation: wenn man permanent Dinge sagt, mit denen man sich nicht identifizieren kann, weil es scheinbar nichts gibt, womit man sich identifizieren kann; wenn man permanent Dinge tut, mit denen man eigentlich nichts anfangen kann, weil sie nichts mit einem selbst zu tun haben können, da man gar kein Selbst hat, aber man die Dinge tun muss, weil man nicht nichts tun kann; wenn man permanent jemand ist, der man nicht sein will, weil man gar keinen festen Willen in sich spürt, irgendetwas zu wollen und wenn, dann hat man sich für den Willen nicht entschieden, und so erscheint alles, was man denkt und tut und darstellt, als nicht gewollt. - Der Trieb sich ins Zimmer einzuschließen und Peter Brötzmann laut aufzudrehen und zu warten, bis die Polizei kommt und die Tür aufbricht. - Permanentes, animalisches Gebrüll „Ich bin nicht das da! Ich bin nicht das da! Ihr versteht mich nicht, ihr verdammten Faschisten! Ich verstehe meinen eigenen Seelenfaschismus nicht!“

Alles was man sagt, ist bewusst oder unbewusst ironisch gemeint.

Das einzig Wahre ist die Idee, dass du nicht der bist, der du bist, weil du nicht das tust, was du tun willst, weil du auch immer Gegensätzliches will, immer auch Unmögliches willst und ein Wille niemals eine Handlung oder einen Gedanken oder ein Gefühl verursachen kann. Die Distanz, die Lächerlichkeit, die Unfähigkeit die Wurzel zu packen. Der Körper ist das stärkste Argument. Die Philosophie des Körpers: wachsen und sterben. Lust.

Alles ist Natur, aber du willst etwas anderes sein, du willst isoliert sein und dir aussuchen können, welches Wort du als nächstes liest so wie du dir aussuchen willst, was du als nächstes denkst und tust. Aber diese Freiheit gibt es nicht, kann es nicht geben, denn alles hängt miteinander zusammen, alles ist eine notwendige Folge.

Die Leute machen, wenn es regnet, so ein hässliches Gesicht, weil sie sich bestraft fühlen vom Wetter und gucken hässlich, wenn die Sonne scheint, weil sie sich belohnt fühlen. Es ist zwar eine andere Hässlichkeit, aber sie drückt auf gleiche Weise mein Herz wie Knetmasse.

Wem es schwer fällt, euphorischen Menschen zu misstrauen, verdient eine richtig große Tüte Mitleid.

Niemand ist dazu befähigt, etwas zu empfinden, was nicht mit dem eigenen Gesicht vereinbar ist.

Ein Gourmet ist jemand, der sich beim Essen all seine Kleidungsstücke vollkleckert.

Man benötigt eine Masturbationsvorlage, um nicht an den gegengeschlechtlichen Elternteil zu denken, wenn man es sich macht.

Manchen Idioten genügt die Überwindung des Willens, ihre Idiotie zu überwinden, um sich besser zu fühlen.

Der Humanismus hat keine Rechtfertigung außer in sich selbst; und das ist zu wenig, um wahr zu sein - da es doch um Leben und Tod geht!

De Sade zeigt uns, was unter der sauberen Oberfläche unserer Zivilisation schwimmt, vielleicht zeigt er uns ihren Grund und Boden. Wenn wir von ihm lesen und schreien „Unmöglich!“, dann schreit unser Herz fröhlich „Möglich!“. Wenn ich ihn lese, lächle ich wie ein Vater, der sieht wie sein kleines Kind die ersten Schritte macht. Der Marquis war ein Pferd, das eingesperrt wurde in einem engen Stall und ausschlug um in die freie Wildnis zu gelangen, all seine Schönheit und Kraft zu entfalten. Die Menschen seiner Zeit verstanden nicht, seine Kraft nutzbar zu machen, ihn vor ihren Karren zu spannen und mit ihm neue Gefilde des Menschseins zu erforschen, neue Höhlen und Meere und Sonnenaufgänge. Man fühle sich von ihm beleidigt (ertappt!) und sperrte ihn weg. Unser Jahrhundert ist weniger hart, aber genau so dumm.

Die Leute in meinen Gedanken schauen mich an, als ob sie wissen, dass ich ihr Äußeres mit meinem Inneren vergleiche.

Märtyrern geht es immer nur um ihren eigenen Tod; die Sache, für die sie zu sterben vorgeben, erfüllt nur die Rolle eines Alibis.

Eine hässliche Fratze wird schöner, wenn man sie blutig schlägt.

Jede Unterhaltung, jede Lust ist amoralisch. - „Mensch, sowas haben wir hier noch nie erlebt.“ - „Das hat uns völlig aus dem gewöhnlichen Trott gebracht.“ - „Das war was, so ein Stress!“ - „Was werden wir noch alles erleben?“ Vielleicht tut man empört, aber Erlebnisse, die solche Reaktionen hervorrufen, machen das Leben erst lebenswert.

Du hast das Gefühl, dass es etwas gibt, was jeder außer dir in seiner frühsten Kindheit gelernt hat. Du spürst ganz gewiss, dass Leute etwas an dir voraussetzen, aber sie sagen es nicht, weil es absolut selbstverständlich und zugleich ein ungeschriebenes Tabu ist, darüber ein Wort zu verlieren.

Unser Körper altert, weil wir die Geister unserer Kindheit nicht loswerden.

Reinkommen ist immer leichter als rauskommen. Ein psychedelisches Leben ist nicht möglich.

Wenn du dich mit jemandem streitest und alles wird immer härter und ihr kommt nicht weiter, dann legt euch einfach auf den Boden, schaut den Himmel an, sagt für ein paar Minuten gar nichts und atmet tief ein und aus. Dieser plötzliche, unkonventionelle Bruch tut gut. Man kann nur anders denken und fühlen, wenn man seinen Körper in eine andere Position bringt.

Sein letztes Argument dagegen war: „Etwas in mir wehrt sich trotzdem und trotzdem und trotzdem!“ Kein Wort konnte er benutzen, um sich wahrhaft zu rechtfertigen, er hätte neue Worte erfinden müssen. Sein Unglück war, dass er nicht lügen wollte. Er hätte viel erreichen können.

„Make Love Not War“ heißt es, aber du hast beides nötig.

Es passiert jeden Tag tausendfach, dass die tiefe, ehrliche, gegenseitige Liebe zwischen zwei Menschen ganz unerwartet, von einer Sekunde auf die andere abreißt und man eine ungeheure Leere zwischen sich und dem Anderen empfindet. Leider hat man dann meist nicht den Anstand, sich zu entschuldigen und sich wieder zu trennen, so als wäre nichts gewesen; nein - man versteckt sich hinter Ritualen, Komplimenten, Geschenken, Perversitäten.

An einem Mann liebt man immer den Jungen in ihm, an einer Frau immer die Männlichkeit in sich selbst. (An einem Mädchen liebt man immer den Jungen in sich selbst. An einem Jungen liebt man den Jungen selbst und nichts als den Jungen.)

Der Rausch der Liebe ist nützlich, um der Kälte der Gedanken und der Überhitzung der Eingeweide etwas Ausgleichendes, Vermittelndes entgegenzustellen. Er bewahrt uns davor, einen Mord zu begehen, dessen Konsequenzen wir noch nicht tragen können und gibt uns eine Wärme, die uns nicht an uns erfrieren lässt.

So wenig wie ein Vulkan entscheidet, ob er ausbricht, so wenig entscheidet ein Mensch, ob er jemanden tötet.

Vergreife dich erst an den Kleineren und Schwächeren, kämpfe mit ihnen und unterdrücke sie, zu reinen Übungszwecken, lerne das Gefühl von Macht und Sieg kennen und such dir allmählich immer stärkere Gegner. Als Kind hast du dir einen Zauberspeer gewünscht, mit dem du deinen Körper durchlöchern kannst, ohne zu sterben, ohne Schmerzen zu empfinden oder anderweitig Schaden zu nehmen. Schon lang weißt du, dass deine Sinne ständig neues erleben müssen, um nicht kaputt zu gehen.

Die Moral in diesem Staat sorgt dafür, dass Überflüssige, Kranke und An-sich-selbst-müde-Gewordene keine Rechtfertigung zum Leben finden müssen. „Wir leben, weil wir nicht getötet werden dürfen.“ sagen sie selbstzufrieden.