Beton

I

Heute einen Ausflug nach Leipzig gemacht, das erste Mal seit Monaten aus Erfurt rausgekommen, bisher nicht genug Selbstachtung dazu; - gelohnt hat es sich aber nicht. Die alte Frau, die mir im Zugabteil schräg gegenüber sitzt, ist wegen mir ganz unruhig, vielleicht ekel ich sie mit meiner Heruntergekommenheit an; "Wie kann man sich nur so gehen lassen?", wird sie ihrem Mann beim Abendbrot sagen. Ich schaue nach draußen, eine graue Landschaft rauscht vorbei, die Wolken schimmern grün, am Horizont kommt die untergehende Sonne etwas hervor, so unbeeindruckend, unpoetisch, leer; ich sehe mein Gesicht in der Scheibe: ein kaputtes, aufgedunsenes, frustriertes Gesicht, jeder der ein bisschen Menschenkenntnis hat, kann sofort erraten, was ich für einer bin, es gibt keinen Zweifel, dass alles, was ich jemals getan und gedacht und gefühlt habe, genau zu meinem Gesicht passt. Ich kann meine Schande nicht verbergen. Ich weiß, dass es sehr liebe, offene, entspannte Menschen gibt, in ihnen leuchte schon immer eine unbedingte Menschenliebe, sie sind mit allen Menschen befreundet und überall zuhause; ich verkörpere viele Jahre schon ihren Antipoden, ich stelle ihn dar: was ich wirklich bin, das ist die Gesamtheit all meiner Zustände; niemand kann mit dem Finger auf mich zeigen und mich meinen. In den endlosen Einkaufsstraßen Leipzigs erschrecke ich über die Substanzlosigkeit meines Lebens; die Distanz zu Erfurt überwältigt mich; so muss sich ein psychedelischer Schub unter Marihuana oder LSD anfühlen. Die Tatsache, dass es diese Drogen gibt und ich zwar so viel schon davon gehört habe, aber noch nie einen Selbstversuch wagte, freut mich: denn mein Interesse, was diese Substanzen anbelangt, hält mich gewissermaßen davon ab, suizidal zu werden, wenn ich mir vorstelle, was ich als Schriftsteller für Möglichkeiten hab, aus der prekären Sackgasse zu kommen, in die mich der liebende Sozialstaat gesperrt hat, sehr zum Wohle aller. Bevor ich von hier verschwinde, suche ich mir auf jeden Fall einen Schamanen. Niemals aber werde ich psychedelische Drogen ausprobieren, solang mich die Schlaflosigkeit und das Nichts mich menschenhassend, weltverachtend durch meine Wohnung torkeln lässt; ich werde mir vielleicht etwas Klavier beibringen lassen vom süßen Wagner, der hier um die Ecke wohnt; schade, dass er gerade mit seinem Boyfriend in Wien ist. Ich vermisse seine Lippen und trinke entgegen meiner Gewohnheiten eine Flasche Wein leer und schreibe dies und schreibe das und schlafen kann ich sowieso nicht, zur Rúhe kommen, in die weiche Dunkelheit fallen, ein frischbezogenes Bett, mein mit rosa Schaum gewaschener Körper, deine Abwesenheit aufsaugend und ausflennend, schnaubend, hustend, kotzend aus dem Fenster! Fleisch und Fleisch ergibt Fleisch und Fleisch! Ich spritz' in dein Höschen...

Schaut mir in die Augen, Bürger von Leipzig! Könnt Ihr sehen, was ich für einer bin? Ich bin sehr leicht geworden, ich könnte jeden Moment davonfliegen. Haltet mich fest mit Euren Blicken, definiert mich mit Euren Augen, stellt mich klar. Ich verfüge über ein riesiges Arsenal an Hilflosigkeits-Gesten, Fragezeichen-Mimiken, ich zittere am ganzen Körper, meine Existenz steht auf zwei krummen, wackligen Füßen und Ihr schaut mich nicht an! Ihr geht an mir vorüber, weil Ihr meine Gedanken nicht lesen, mein Herz nicht schlagen spüren könnt. Gleich wird der kalte, graue Regen auf diese kalte, graue Stadt plätschern und Ihr werdet hastiger, Eure Laune wird noch ein bisschen schlechter, Eure Kleider werden schwerer, die Luft wird sauberer. Meine Augen leuchten, mein Gesicht ist eine weiße Festung, ich habe das Gefühl schon viele hundert Jahre auf der Erde zu sein und dass ich bald eine entscheidende Schlacht zu gewinnen oder zu verlieren habe. Der Wein rührt in meinen Gedanken herum, wie ein fetter, verschwitzter Koch mit seinen Füßen den Obstsalat umrührt. Ich weiß nicht mehr, wann ich das letzte Mal länger als zwei Stunden geschlafen habe. Mein Rücken quält mich, als würde er mich dafür bestrafen, dass ich mich noch nicht umgebracht habe. Mir fällt es sehr leicht, schwere Worte wie "umbringen" zu benutzen. Mein Arsch ist kalt und meine Füße sind eingeschlafen, die Leute rauschen an mir vorbei, eine verschwommene, graue, dampfende Masse, darin blitzen immer wieder bekannte Gesichter von früher auf, schauen überrascht, sie dachten nicht dass ich noch existiere und versuchen so zu tun als würden sie mich nicht erkennen, ich zieh mich an dem Verkehrsschild neben mir hoch und versuche mich zu orientieren. Links geht es zum Bahnhof zurück, rechts geht es in die Innenstadt, und wenn ich durch die Gasse vor mir gehe, komme ich zum Theaterplatz und dahinter dann zum Stadtpark. Ich heb die leere Weinflasche auf und schmeiß sie in den Mülleimer gegenüber und geh zum Bahnhof zurück.

II

Ich habe so Angst, mich zu irgendetwas zu bekennen, in irgendeine konkrete Richtung zu gehen, aber schon meine Unfähigkeit, mich zu definieren, ist Substanz. Mit jedem Atemzug schlingt sich die Kette meiner Existenz fester um die Idee, das ich mit meinem Leben tun kann, was ich will, aber ich weiß nicht, was und denke, bald den Mut zu haben mich weit, viel zu weit aus dem Fenster zu lehnen. Wenn die Zivilisation ein Strom ist, der ins Unbekannte fließt, dann bin ich ganz vorn mit dabei. Ich schwimme ganz oben auf der Welle des Fortschritts, ich bin einer der empfindsamsten, mutigsten, unbestechlichsten Menschen. Meine Traurigkeit und Ungeschliffenheit und Abgeschiedenheit macht mich unverwundbar.

Ich lungere wie eine unsterbliche Eidechse in einer kleinen Box tausende Meilen unter dem Meeresgrund eines unbewohnbaren Planeten in der Mitte des Universums. Wie eine zerbrochene Glasflasche wandert meine Einsamkeit durch meinen Darm und ich erwarte jeden Moment, dass mich ein heftiger Schmerz zerreißt. Es gibt nichts, was ich mehr genießen kann, es gibt nichts, was mir mehr schmeckt. Ich fresse irgendwelches Fertigfutter, weil mein Körper daran gewohnt ist: er erzeugt mir ein Unlustgefühl, wenn ich ihm Essen verweigere, aber er belohnt mich nicht mit einem Lustgefühl, wenn ich ihn versorge. Meine Abgeschiedenheit von der Welt erscheint mir als die universelle Antwort auf die Fragezeichen, die mein Herz Zeit meines Existierens in die Welt geschlagen hat. Ich bin in einem ekelhaften, schwachen Körper eingeklemmt, der in einer kalten, düsteren Welt eingeklemmt ist, in der es noch niemals einen Grund gab, sich die Hände schmutzig zu machen oder auch nur einen Finger zu rühren. Die Tatsache, dass ich jetzt in diesem Moment nicht Schluss mache mit allem, beweist, dass ich ein absoluter Versager bin. Ich kann nichts mehr zwischen mir und meiner Bedrückung schieben, keine Lust, keine Sensation, keine Hoffnung, keine Nostalgie, ich bin völlig aufgedunsen von einer kalten, alles verderbenden Stumpfheit, mein Blick schiebt alles, was ihm begegnet, weit zurück, meine Gedanken lecken lustlos an sich selbst herum, mein Herz ist ein morscher Baumstamm, der langsam in einem grauen Sumpf versinkt. Selbst der barmherzigste Christ wäre außer Stande, mich zu bedauern. Ich erinnere mich an kein Paradies, ich möchte niemanden entthronen, es gibt nichts, das ich mit Lust zerstören könnte; ich bin ein magerer, sperriger Niemand, sämtliche Nichtigkeiten, die normale Menschen in regelmäßigen Abständen von sich abschütteln, habe ich zusammengestaut, bis sie zum Kern meines Wesens wurden, dessen Radioaktivität alles ringsherum auflöst und der irgendwann in sich selbst stürzt.

III

Es ist möglich, dass sich die Persönlichkeit entscheidend verändert, wenn man etwas, das seit Jahren als geheime Frage im Raum schwebt, beantwortet.

Die Arroganz meines Elends will das Nichtdenken-wollen, Nichtdenken-können als das absolute Heil allen Menschen preisen, gleichgültig ob sie glücklich sind oder nicht.

Etwas zu wollen, für das man nicht geschaffen ist, ist Zeichen einer Krankheit: und diese Krankheit strahlt durch den ganzen Körper und will alles zugunde richten.

Selbst, wenn man nur noch Gründe findet, sich zu töten, sollte man eben wegen dieser Gründe am Leben bleiben und sie auskosten und sich mit ihnen in einen anderen Menschen verwandeln. Es ist möglich, seinem Leben eine radikale Wendung zu geben, wenn man am absoluten Abgrund ist, wenn man die Kälte des Todes spürt.

Ein Kind sitzt auf einer Schaukel und schwingt sich zum Gefühl hoch, dass das Leben ein Eimer Zement ist, der langsam, viel zu langsam trocknet.

Als Kind hast du dir einen Zauberspeer gewünscht, mit dem du deinen Körper durchlöchern kannst, ohne zu sterben, ohne Schmerzen zu empfinden oder anderweitig Schaden zu nehmen.

Selbsthass weckt produktive Kräfte, die man gebrauchen kann, um sich weiterzuentwickeln oder zu zerstören. Letztlich tut man das, woran man am ehesten glauben kann: mancher aber sollte genau das Gegenteil tun.

An den Werken Anderer erkennen wir, wer oder was ihnen nicht im Weg gestanden ist. Es ist so einfach, dass ich am liebsten ein paar bunte Blumen pflücken, sie in die Luft werfen und über mein glückliches Gesicht rieseln lassen würde.

So wie ein Satiriker es nicht wortwörtlich meint, wenn er sagt, der Präsident soll enthauptet werden, so meint es auch mein Atmen, mein Herzschlag, mein Gehirnstrom nicht ernst. Ich bin für meinen Körper ein notwendiges Übel. Er hält von mir so viel wie Hagen Rether vom Papst. Ich schau ihn mit großen, müden Augen an und flüstere: "Warum nur? Warum?" und erwarte einen stechenden Schmerz im Kopf, dessen Ausbleiben mich immer mehr beunruhigt.

Die Fähigkeit, Sympathie zu empfinden für alle Geächteten in dieser Gesellschaft ist eine wichtige Voraussetzung für eine wirkliche Systemkritik. Jede illegale Tat, jede unterdrückte Lust ist eine Entzündung im gesellschaftlichen Organismus.

Ich liebe es, an den euren Maßstäben, mit denen ihr mich erniedrigen wollt, zu scheitern. Was für ein Unglück wäre es für mich, wenn ich euch noch genügen könnte! Mein Unfähigkeit, euch etwas zu bringen, ist mein größter Trumpf, den ich habe.

Dieser Blick, der sagt: ich weiß, dass ich ekelhaft bin, aber ich habe das Recht, zu leben, niemand darf mich töten.

Ein Kind verbrennt sich an einer heißen Herdplatte, eine Depression raubt der Mutter den Schlaf, ein Tumor sitzt dem Onkel auf den Nerven: in jedem dieser Fälle sagt der Körper: dreh dich um! Mach was anderes! Sag nein! Sag ja! Meine Depression will mich am Leben halten wie die Ohrfeige der Mutter, die das Kind mit einer Crack-Pfeife erwischt.

Meine Wohnung ist viel zu groß für mich, alles steht so gnadenlos zusammen, und was ist das für eine raue Stelle an meinem rechten Fuß?

IV

Ich stell mir einen fetten Typen vor, den feuchte Träume von nackten Jungs derart entsetzen und bedrücken, dass er auf die Straße geht und mit Nazis für die Todesstrafe für Kinderschänder plädiert. Wo ein Schwanz ist, ist ein Wille zum Loch. Wo ein Schwanz und ein Loch sind, ist eine Gelegenheit. Gelegenheiten kann man nutzen oder ungenutzt lassen. Wenn man sich vorstellen kann, einen pädophilen Bundespräsidenten auf einem Scheiterhaufen vorm Reichstag zu verbrennen, kann man sich auch vorstellen, einen Jungen, statt richtig zu gebrauchen, zu missbrauchen. Alles, was man gebrauchen kann, kann man missbrauchen.

Es gibt keinen Grund, mich dafür zu schämen, dass ich voll und ganz auf meine Kosten kommen will. Ich muss mich nur vor uniformierten Wach- und Jagdhunden in Acht nehmen. Ich habe Lust, mich mitten auf die Straße zu hocken und zu kacken oder mir an der Bushaltestelle vor alten Omis einzuschiffen. Wenn ich mit meinem Leben machen kann, was ich will, kann ich auch mit meinem Schwanz und meinem Arsch machen, was ich will. Jeder würde es genießen, Macht auszuüben, jeder will am längeren Hebel sitzen, jeder will stark und schön und berühmt sein, jeder will Kontrolle über den allesentscheidenden Roten Knopf haben.

Das Leben findet immer einen Weg: der Efeu schlängelt sich um den Panzer, riesige Pilze wachsen in radioaltiv verseuchtem Gebiet, Zirkuslöwen fallen ihre Dempteure an, wahnsinnig gemachte Jugendliche laufen Amok: wie kann jemand, der sein eigenes Leben als das Wertvollste überhaupt erkennt und das gesellschaftliche System als erniedrigend, solche Ausbrüche des Lebens nicht wunderbar, nicht tröstlich finden?