Apokalyptische Besenkammer

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Erfurt Rieth - eine Stadt wie ein Krater voll Knochen und Salz und ein paar abgemergelte Meth-Leichen verkriechen sich bis zur Dämmerung in den Wänden ihrer von Insomnie und Selbstverachtung aufgeweichten Höhlen. Der Himmel leuchtet grau wie der Bürgersteig, auf dem zartbittere Leute ihre grellen, leeren Gesichter spazieren tragen, direkt an meinem Fenster vorbei.

In meinen Hosentaschen steckt noch ein bisschen Kleingeld, daraus lässt sich was machen, aber erstmal den Gestank von meinem Körper befreien und mein Gesicht entheddern, damit die Kassiererin weiter in ihrer Fassung leuchten kann. Ich wünschte ich könnte all meine Sorgen von meinem Körper kratzen und im Klo runterspülen.

Jeder muss ab und an unter seinem Bett aufräumen oder sich zumindest einen Überblick verschaffen über all den Kram, der sich die letzte Zeit so angesammelt hat. Was gehört wirklich zu mir? Nichts. Deshalb gehöre ich auch nirgends hin. Ich erinnere mich an meinen Großvater, der sagte immer, dass es nicht schlimm ist, wenn man nicht weiß, wo man hingehört, "Hauptsache, du hast Pfefferspray bei dir!" und die Sonne scheint und ich bin so müde.

Ich weiß nicht, wie lang ich geschlafen habe. Hab ich überhaupt richtig geschlafen oder nur falsch? Ich habe Angst den Nachbarn zu begegnen ... mit ihren Augen und ihren Ohren. Sie werden wohl mehr mitbekommen haben.
Ich will mit Michael reden, aber er geht nicht ans Telefon und ich versuche unbeeindruckt davon in meine Lederjacke zu steigen. Dann öffne ich die viel zu dünne, viel zu offensichtliche Tür und schneide meinen schwerfälligen Körper durch den dicken, stickigen, grau-leuchtenden Tag, den ich in ein paar Minuten mit mittelmäßigem Bier für beendet erklären werde.

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Bekenne dich zu deinen banalen Routinen, kleiner Mann! Leg jeden Seufzer ab, schwächliches Kind, mach soviel Ärger wie möglich! Die Zeitungen berichten zu wenig von den kleinen Katastrophen, die Romane stellen immer den Autor in den Mittelpunkt, den Autor und seine Perspektive, und so ist es im Theater, im Film, überall: es geht nicht um die Welt als Ganzes, es geht immer nur um Ausschnitte. Ich strecke meine Zunge weit raus. Die Überbewertung der eigenen Perspektive führt zum Verlust der Fähigkeit, sich als Teil des Ganzen zu fühlen. Hört auf Romane zu lesen! Die Wirklichkeit ist interessant genug! Hört auf Filme zu schauen! Lasst Euch keine Wirklichkeit vorgaukeln! Die Wirklichkeit ist interessanter als Fiktionen. Solang die Welt derart unruhig, aggressiv und lebensgefährlich ist, ist die Beschäftigung mit der Realität lebenswichtig und jede Fiktion nur ein legales Betäubungsmittel. Hört auf ins Theater zu gehen! Bringt Euch lieber selbstbewusst, maskiert, voller Hintergedanken in das Theater ein, in dem ihr Euch die ganze Zeit schon befindet. Die gesamte Oberfläche der Erde ist eine Theaterbühne. Veränderbare Gesetzbücher regulieren die Freiheit, die wir zur Verfügung haben, die Rolle umzusetzen, die wir selbst erfinden und gestalten müssen. Jeden Tag übe ich schreibend meine Rolle als Schriftsteller ein. Irgendwann werde ich verlegt, irgendwann bin ich eine öffentliche Person.

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Je mehr Leser man hat, desto unfreier ist man. Jeder Leser hat Erwartungen. Ich möchte heilig gesprochen werden von denen, die nichts erwarten. Ich möchte befreundet sein mit allen Leuten, die mich brauchen.
Alle müssen alle kennenlernen, damit alle die besten Freunde finden können. Solang nicht jeder einen festen, zu seiner Persönlichkeit und seinen Zielen passenden Freundeskreis hat, eine liebevolle Großfamilie, Wahlfamilie, solang nicht jeder sich eine Familie zusammengestellt hat, muss er gar nicht erst anfangen, sich um einen Beruf zu kümmern. Wenn ich nicht irgendwo eingebunden bin, will ich mich auch nicht in die Welt einbringen. Ein liebevoller Staat muss dafür Verständnis haben, sonst ist seine Liebe nicht echt. Und warum sollte ich lieb zu einem Staat sein, der mich nicht lieb hat? Warum jemanden ernst nehmen, der kein Interesse an mein persönliches Schicksal hat?

Wer bin ich? Die schriftstellerische Distanz zu meiner Egoperspektive. - Jeder Buchautor trägt eine falsche, unsichtbare Maske, die selbst er noch für die Wahrheit hält. Das alles interessiert mich nicht. Ich schreib doch keine Romane! Ich behaupte Wahrheit. Ich schwöre mir ein Testament herbei, das all meine Leser lesend vollstrecken werden.

Warum soll ich etwas erfinden? Taugt denn die Wirklichkeit nichts? Was sollen Euch meine Phantasien angehen, wenn Euch die Wahrheit allein ausreichen könnte! Ich werde niemals einen Roman schreiben! Wie vergnügungssüchtig muss man sein, um sich in Fiktionen zu wälzen! Die Dichter lügen zu viel! Sie müssen lügen! Ich möchte kein Dichter sein, ich hänge zu sehr am Wirklichen, an der Menschheit, wie sie gegenwärtig existiert, an mir, wie ich gegenwärtig existiere. Ich brauche keine Karriere, weil ich schon jetzt glücklich bin. Einzig mir verbliebene Aufgabe: mein Glück zu teilen und zur Not nicht obdachlos werden.

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Es bleibt ungemütlich, wo es schon immer ungemütlich war und die Orte, wo es gemütlich ist werden immer knapper und auch für uns ist irgendwann die Zeit der Gemütlichkeit vorbei. Unfassbares Leid, für das kein menschlicher Körper gemacht wurde, unfassbare Qualen werden uns alle widerfahren und wir werden nicht wissen, wer genau uns diese Qualen antut. Wir werden sie erleiden und sonst nichts. Noch wollen wir die Zeichen nicht wahrhaben, die auf die anrollende Katastrophe hindeuten.

Schon jetzt, an manchen dunklen Nachmittagen ist uns die Welt so sinnlos kalt und apokalyptisch seicht. Was für grauenhafte Nachmittage gibt es hier! Was für ein blödsinniges Leben offenbart sich hinter den Routinen, die all unsere Leidenschaften für Utopien fressen. Unsere Trübnisse sind die süßen Vorboten einer absoluten Markerschütterung: die Depression, die hässliche, deutsche Depression. Ich hab eine rostige Kreissäge vor Augen, wenn ich das Wort Deutschland benutze. Ich bin von keinem Institut, ich schreibe keine Romane, ich will niemanden beeindrucken. Wie weit werde ich kommen? Ich strecke wieder meine Zunge weit raus. Vielleicht gehöre ich zu den glücklichsten Menschen der Erde. Ich fühle mich schuldig.