Bleich

Mai, 2014

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Ich habe heute Nacht einem betrunkenen, alten Fettsack am Alten Angerbrunnen ein paar Schläge in die Fresse gegeben, weil mir so schrecklich langweilig war, als ich aber heute Nachmittag mit meinen Freunden unterwegs war, hab ich einem Obdachlosen, der für die Mafia etwas Geld für die Portokasse erbetteln muss, eine Mate gekauft. Mein Gewissen ist wieder sauber, aber mein Herz ist von der Arroganz dieser Sauberkeit angefressen und ich kann mich zu nichts mehr motivieren: ich habe nur noch Lust mich auf den Boden fallen zu lassen und eine Schar weißer Tauben auffliegen zu lassen, die mir das entspannende Fieber zurückbringen, das mir gestern Nacht den Weg durch die Stadt geleuchtet hat.

Alles, was den Menschen vom Tier unterscheidet, definiert seine Unfreiheit. Damit will ich nicht sagen, dass es sich lohnt, wie ein Tier zu leben, sondern dass Unfreiheit nötig ist, wenn man sich nicht damit abfinden will/kann, wie ein Tier zu leben. Wann immer ich Lust habe, in mein Bett oder auf die Straße zu kacken, hinterfragt mein Körper das Ideal, in das ich mich zwänge, um liebenswert zu erscheinen.

Wenn du wirklich frei sein willst, dann darf dich niemand mehr brauchen, dann kannst du überall nur noch stören und deine hohle Einsamkeit als Sieg feiern und mit bedeutungslosen Gesten ausschmücken und wenn falls deine Freiheit bald niemandem mehr Probleme bereitet, dein Wachstumstrieb sich gegen keine Welt mehr richten kann und du dich völlig vergessen kannst, bist du ein Gespenst, das sich wie ein Parfum in einer Sackgasse verflüchtigt.

Du darfst nicht mehr klarkommen! Du musst dich verbeißen in irgendeinen Wahn, irgendeinen Fanatismus, irgendeine Lüge, irgendeine Halluzination, irgendeinen Irrtum. Du darfst nichts mehr erwarten von den dir angebotenen Wahrheiten! Du musst JA zu deinem heulenden Herzen und deinem verlogenen Gesicht sagen, JA zu deinem Gestank und deiner unausschlachtbaren Erbärmlichkeit, JA zu deiner zähen Geilheit und deiner Gleichgültigkeit, JA zu deinem Ekel und deiner Faulheit, immer JA JA JA sagen zu allem was du bist und NEIN NEIN NEIN und MIR EGAL MIR EGAL MIR EGAL zu allem Vergangenen und Zukünftigen! Du musst alle Brücken, die zu dir und von dir weg führen, niederbrennen! Du sollst komplett verschmelzen mit dem glühenden, lächerlichen Irrsinn, der deinen Körper erfüllt und zum Platzen bringen will! Du musst dich wie ein dummes, krankes Tier reinsteigern in deine Gegenwart und jede Lust und jeden Schmerz ausschöpfen! Erst wenn du nichts mehr mit deinem Namen und deinem Gesicht anfangen kannst und über deinem Haupt ein Heiligenschein aufgeht, dann erst kann ich dir verzeihen, dass du jemals ein Jobcenter von innen gesehen hast.

Ich habe nur einen Zugang zu mir, wenn ich mich im Elend der Anderen suhle. Glückliche Menschen bringen mich von allem weg, woran ich meine Identität festmachen könnte, aber unglückliche Menschen geben mir das Gefühl, aktiv zu leben, bei mir selbst und überhaupt ein Mensch zu sein. Das ist mir mit 13 Jahren auf der Beerdigung der Mutter eines Schulfreundes bewusst geworden. Er umarmte mich heulend und ich fühlte mich wie ein Mörder*. Die Trauerfeier gab mir zum ersten Mal ein echtes, stabiles, sicheres Selbstgefühl, hob mich aus dem zähen, kalten Lebensstrom, in den ich mich bisher treiben ließ, ich wusste plötzlich, dass ich ein Individuum bin, mit einem Herz, das feige wie alle Herzen Blut durch meinen Körper pumpt - die Euphorie die mir kommt, wenn ich mir das Elend meiner Mitmenschen vergegenwärtige, lässt mich diese Feigheit erst ertragen, ja sogar genießen. Mehr gibt es über mich nicht zu sagen. Was Freunde und Familie von mir halten, kommt bloß aus der Weigerung, mich so zu empfinden. (*Vielleicht sammelt sich dieses Gefühl immer mehr Rechtfertigung aus meinem Leben zusammen.)

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Ich werde gefragt, wie ich zu Putin stehe und dem Islamischen Staat und dem Papst und Bodo Ramelow. Ich weiß nicht, was ich mit der Erwartung, dass ich ein Ich habe, das Dinge meint, das zu Dingen steht, das Dinge glaubt und nicht glaubt, anfangen soll und antworte nicht und stell mir vor, wie ich in einem Park sitze und mir vorstelle, wie ich an mich denke und sich dabei meine Haut auflöst und es sich herausstellt, dass mein Gehirn schwarzer, qualmender, ätzender Schlamm ist, in dem Kinder spielen, die noch nie geschlafen haben, die nicht wissen, was sie mit diesem pastellgelben, kitschigen Sonntag-Nachmittag machen sollen, den ich über ihnen aufgestellt hat. Ich wünschte, ich wäre so süß wie die Kinder, ich wünschte ich hätte ihre schwarzen Augenränder, ich wünschte ich hätte ihr lasziv-gleichgültiges Charisma, ihre erotische Verdrießlichkeit, ihre niedliche, weiche, warme, arrogante Distanz zur Welt. Das einzige, was mich mit ihnen verbindet, ist mein Neid - und dieser Neid, glühend und unbarmherzig, lässt mich tragischer Weise aussehen, als hätte ich eine feste Meinung zum Weltgeschehen.

Oh Vater! Schau mich ein letztes Mal an! Höre meine Worte. Mit diesen Worten fundiere ich die letzten Reste meiner Existenz, das, was mir mein verschwenderisches Rasierklingen-Leben gelassen hat. Hiermit stehe ich. Hiermit bin ich mir etwas. Bereit endlich für das, was kommt - auch für das, was nicht kommt. Die Welt ist auseinandergebrochen. Ein Spalt klafft unter mir seine Unendlichkeit dahin wie ein Kind in die Ecke spuckt, um cool zu sein. Ich bin entschieden. Alles, was uns gut und schlecht getan hat, hat uns zu dem getrieben, was wir sind. Mein Ich besteht nur noch aus der Hoffnung auf den kommenden Zerfall seiner selbst. Der Rest ist unpersönlicher Leib, auf den ich keinen Zugriff habe. Ich wende mein Gesicht der Sonne zu. Wir sind am Ende angekommen. Es gibt keine Geheimnisse mehr, es gibt keine verborgenen Schätze mehr, es gibt keine Hoffnung mehr.

Ich falle aus dem Bett, mein Körper ist so schwer heute und es gibt da ein Licht hinter meinen Augen, das tackert mich gleichgültig flackernd ans Leben im Takt eines aufgeweichten Herzens, das sich irgendwo in einem anderen, ziemlich abwesenden Körper versteckt. Meine Augen sind trocken, weil ich (angeblich) nicht damit klar komme, dass andere glücklicher oder unglücklicher sind als ich. Ich sähe Zwietracht, ich stifte Unruhe und Vergeblichkeit, aber ich hab dafür immer das selbe an, damit man mich besser erkennt. Ich bin so schrecklich müde, dass ich mich frage ob es sich lohnt überhaupt zu schlafen und vor allem zu träumen. Ich habe meine Lust verloren etwas zu riskieren, es gibt niemanden mit dem ich alles an und in mir teilen kann - meine Hoffnung ist die Schlinge in der mein Verstand baumelt und gleich klopft jemand, den ich gar nicht mehr leiden kann, ans Fenster, weil meine Klingel nicht geht - gleich, gleich. Oder auch nicht. Oh, ich bin so einsam, oh ich bin so sensibel, oh ich bin so arty-farty. Ich rolle mich auf dem harten, vermüllten, mit Tran und Schweiß und Moder vollgesogenen Fußboden, weil ich noch nicht ganz am Ende meines Lebens angekommen bin, heute noch nicht. Die Gewissheit, dass ich mich heute nicht töte, macht mein Herz hart und kalt und zwingt mir das Gefühl auf, ein Gott zu sein; meine Vermessenheit ist meine Liebe zu mir und der Anfang und das Ende von allem.

Fettgestopft mit kalter, klebriger Lustlosigkeit in deinem Bett hin- und herwälzend und mich von ein paar zartbitteren Selbstgesprächen führen lassend, erhebt sich eine weiche, elektrische Sonnenblume hinter deinem Gesicht und erhebt mich über die Menschheit. Dann gehst du ein paar Runden durchs Dorf. So leer, schwach, uninspiriert - aber du kannst darüber noch nicht weinen. Ich geh irgendwo hin, es fühlt sich an wie zurück. Depressionen sind Tore. In deinem Bauch öffnet sich ein schwarzes Loch, aus dem ein fetter Skorpion krabbelt. Bevor dein Gehirn einen Bezug dazu entwickeln kann, frag ich mich, ob die Menschen in der Dritten Welt genügend Tampons haben. Dann kommt ein rettender neuer Kaffee um die Ecke. Und der Koffeinkoffeinkoffeinkoffeinüberüberüberschuss-Schluss, ich schließe alles richtig, denn ich schließe alles auf. Ich lese solche Texte lieber im Freien als im Keller, dort verbinde ich mich mit meiner Gottlosigkeit viel schneller. Mein Publikum wird später einmal sagen: „Wir haben gewusst, die Sterne stehen günstig." Lass dich nicht entmutigen. Es geht um innere Spannungen, die dein Immunsystem stärken. Hier unten, am Bodensatz der urbanen Wirklichkeit, ist alles so banal sterblich. Banalität trübt und übersäuert. Willst du eine höhere, strahlende, ausgewogene Sterblichkeit genießen? Dann komm dahin, wo das höhere Leben wuchert und rauscht. Es ist etwas Reales! Nichts Poetisches, nichts Imaginäres oder Idealistisches! Es ist das höchste, reinste Leben und heute exklusiv auf diesem Kanal wird es dir, und zwar nur dir alleine, zum besten Preis angeboten, den sich ein Mensch ausdenken kann. Nur das reine Leben kann dir Kraft geben.andere bringt dich ab von deinen besten Kräften und Säften. Das kannst du nicht wollen, wenn du dich lieben willst oder gibt es etwas anderes als Liebe, das dich hier hält? Entweder die Suche nach ihr oder der Kampf um sie hält dich am Leben. Wer nichts liebt, ist nicht lebensfähig. Liebe ist schön. Die Sterne stehen günstig. Du wirst so stark und so glücklich sein, wie ein psychopathisches Kind mit einem unglaublichen Sex-Appeal und einem ungewöhnlichen Geschick im Umgang mit Schusswaffen. Alles ist ein Spiel ohne Regeln. Dein Gehirn ist ein Würfel und deine Genitalien die Spielfiguren. Kein Mensch kann sich brauchbare Regeln für dich ausdenken. Deine Sterblichkeit wird noch alle Menschen verzücken. Alles, was dich glücklich macht, kannst du dir leisten. Liebe ist das wichtigste. Hier unten gibt es nichts für dich zu holen, komm rauf! Komm endlich rauf zu uns! Ich bin kein Esoteriker, ich bin kein Guru, ich bin die Stimme der surrealistischen Vernunft, gebacken in dadaistischen Fiebernächten. Du kannst dich zu mir wenden oder von mir abwenden, aber du kannst niemals wieder vermeiden, von mir zu profitieren. Ich bin das Salz in der Suppe, das Koffein im Kaffee, die Farbe Rot und die Windung des Bohrers, den dir ein Frechdachs zum Geburtstag geschenkt hat, damit du dein Leben noch besser durchlüften kannst. Liebe, Liebe und Liebe. Schau in mein bleiches Gesicht und sag mir, dass du daran glaubst. Alles was du brauchst ist Liebe. Liebe ist so gut. Liebe ist das Pflaster das du brauchst. Ich weise dir den Weg, ich bin die pure Liebe. Liebe Liebe Liebe Liebe. Jeder kann damit machen was er will. Erschlagen von der ewigen Liebe schneide ich dem Bürgermeister die Kehle durch. Ich bin der einzige Mensch, der etwas über Liebe sagen kann. Hier oben, wo das hohe Leben verzückt an der kosmischen Liebe Zuckungen, wie ein Specht, wie ein bisschen was von dem Currypulver. Ich will meine Augen schließen und die Liebe einfach fließen lassen und wenn du mir jetzt deine Hand gibst, dann kannst du alles haben, was ich auch habe, lass es zu, lass dich zu, dein Herz will blühen, lass dich fallen, denn nach dem Tod passiert das, was mit den Schauspielern am Ende eines Films passiert. Sie leben weiter in der Liebe ihres gemütlichen Alltags, es ist hier, es ist real. Du kleiner Spinner, gib mir deine Hand und vertraue mir, glaub nicht den Leuten die was von Liebe und höchster Lebensessenz reden, glaub nur mir, ich bin der, der wirklich zu dir spricht. Ich bin Mars und meine Säge wird dir gefallen. Deine Liebe ist absolut genug. Du bist unsterblich, wenn du mir folgst.